Erinnerungen von Werner Tübke

Hannes Schwenger, in: Der Tagesspiegel, 29.10.2017

War Werner Tübke also ein Opportunist? Ja und nein. Die Tagebücher, in ihrer Gänze bis 2024 gesperrt und hier nur in autorisierten Auszügen publiziert, geben darüber ambivalente Auskunft. Einmal notiert Tübke, seine Kunst dürfe keiner Partei dienen, aber seiner Partei malt er Bilder zur Geschichte der Arbeiterbewegung, zu Ungarn, Chile und Hiroshima, von denen er später sagen wird, sie hätten ihm nur als Folie seiner Selbsterfahrung als Künstler und Individuum gedient. […] Selbst sein zeitweiliger Gönner und Förderer Alfred Kurella, Leiter der Kulturkommission beim ZK der SED, Kafka-Hasser und Präzeptor des Sozialistischen Realismus, äußerte auf dem VII. Parteitag der SED 1967 Bedenken, dass die Künstler „den Weg des Sozialismus zu verlassen beginnen“.

Wusste Kurella, dass sein Günstling insgeheim Kafka, die französischen Existenzialisten und den als Altnazi verhassten Heidegger las? Möglich, denn Tübke notiert 1977 im Tagebuch, seine Post werde überwacht. Aber jetzt war Kurella tot, während die drei Leipziger Maler Schule machten und zu Kronzeugen für die von Honecker proklamierte Weite und Vielfalt des Sozialistischen Realismus wurden. Damit erfüllte sich – mit seinem Amt als Rektor, dem Nationalpreis 1. Klasse und dem Frankenhauser Großauftrag – Tübkes Sendungsbewusstsein, das sich „an den gewachsenen Hochleistungen eines Veronese, eines El Greco“ maß. weiterlesen…

Werner Tübke: Mein Herz empfindet optisch. Aus den Tagebüchern, Skizzen und Notizen hrsg. von Anna Michalski und Eduard Beaucamp. Wallstein, Göttingen 2017. 396 S., 39,90 €.

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